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„Die Baubranche muss öfter über den Tellerrand schauen"

Stand: Mai 2024
Foto, Dr. Ralf Pude

Nachwachsende Rohstoffe bieten für die Baubranche enorme Vorteile: Sie binden große Mengen CO2, haben hervorragende Dämmeigenschaften und benötigen im Vergleich zu mineralischen Stoffen wie Beton kaum Energie in der Herstellung – und dennoch kommen sie zu selten zum Einsatz. Ein Gespräch mit dem Agrarwissenschaftler Prof. Dr. Ralf Pude über Zukunftspotenziale und warum Agrarexperten öfter zu Bauthemen befragt werden sollten.

Sie forschen seit den 1990er Jahren zu nachwachsenden Rohstoffen. Hat sich der Blick seither verändert?

Unbedingt. In den 1990ern galt Biomasse noch hauptsächlich als Energiequelle. Den Wert als Baumaterial hat man erst viel später neu wiederentdeckt. An der Universität Bonn haben wir damals schon mit Leichtbeton experimentiert und es geschafft, den beigemischten Sand vollständig durch Miscanthus – auch Chinaschilf genannt – zu ersetzen. Für uns eine echte Revolution! Leider waren wir mit unserem Projekt aber noch gut und gerne 20 Jahre zu früh. Es gab noch keine DIN-Normen, um das Produkt in die breite Anwendung zu bringen. Und weder Politik noch Baubranche haben sich für unsere Ideen interessiert. Das hat sich um 180 Grad gedreht. Immer mehr Menschen interessieren sich für die neuen Baustoffe – übrigens ist das bereits mein drittes Interview diese Woche!

Welche Arten von nachwachsenden Rohstoffen gibt es eigentlich?

Sehr bekannt sind die einjährigen Kulturen wie Flachs, Hanf oder Stroh. Ihr Anbau ist jedoch aufwendig oder regional teilweise gar nicht möglich. Hanf wächst vor allem in Frankreich und Ungarn gut – in Deutschland haben wir da nicht die richtigen klimatischen Bedingungen. Für den deutschen Anbau besser geeignet sind dagegen mehrjährige Pflanzen wie der erwähnte Miscanthus und Paulownia oder die durchwachsene Silphie: Sie sind enorm pflegeleicht und können auf verschiedenen Böden als sogenannte low-input Pflanzen angebaut werden.

Welche Vorteile bieten sie als Baustoffe?

Mehrjährige Pflanzen binden mehr CO2 als jede andere Pflanze und können gleichzeitig gut dämmen. Miscanthus wächst fünf Zentimeter pro Tag und betreibt von Anfang an Fotosynthese. Pro Hektar und Jahr bindet die Pflanze rund 30 Tonnen CO2. Zur Orientierung: Mit einem Hektar Miscanthus könnte ich ein ganzes Einfamilienhaus bauen.

Zudem nehmen nachwachsende Rohstoffe Wärme aus der Umgebung auf und geben sie zeitlich verzögert wieder ab. Dadurch eignen sie sich sowohl für die Dämmung im Winter als auch für den sommerlichen Wärmeschutz. Bei steigenden Temperaturen wird das zukünftig immer wichtiger werden. Unsere Betongebäude können da nicht ansatzweise mithalten.

Gibt es noch weiteren Vorteile?

Mehrjährige nachwachsende Rohstoffe erfüllen auch sogenannte ökosystemare Dienstleistungen. Das heißt: Schon beim Anbau leisten sie einen ganz wesentlichen Beitrag zu Klima und Umwelt. Sie bieten unter anderem Bodenruhe oder verhindern Erosion. Darüber hinaus stellen sie für zahlreiche Käfer- und Spinnenarten aber auch größere Tiere wie Fasane oder Zwergmäuse einen winterlichen Unterschlupf zur Verfügung.

Wie steht es um andere mehrjährige Kulturen?

Sehr vielversprechend ist auch die Paulownia, auch Kiribaum genannt. Sie stammt ursprünglich aus Zentral- und Westchina und wächst im Vergleich zu heimischen Bäumen vier bis fünf Mal schneller. Im Durchschnitt bildet sie Jahresringe von vier Zentimetern – das ist enorm viel und ermöglicht eine ähnlich hohe Kohlenstoffbindung wie bei Miscanthus. Im Frühjahr trägt sie zudem große Blüten und bietet für Bienen einen hervorragenden Lebensraum.

Gibt es beim landwirtschaftlichen Anbau nicht auch Nutzungskonflikte?

Die gibt es mit Sicherheit. So galt etwa Stroh lange Zeit als zukunftsweisender Baustoff. Inzwischen wird das hinterfragt, da Landwirte eher dazu angehalten sind, Stroh auf der Fläche zu belassen, um die Humusgehalte im Boden zu erhöhen. Bei mehrjährigen Pflanzen stellt sich dieses Problem hingegen nicht, im Gegenteil: Sie lassen sich auch an schwierigen Standorten wie Industriebrachen anbauen und bieten dadurch ganz neue Potenziale für eine nachhaltige Flächennutzung! Ein Projekt in der Lausitz etwa hat dies eindrucksvoll gezeigt: Auf der ehemaligen Tagebaufläche Reichwalde wurde testweise auf gut einem Hektar Miscanthus angebaut. Das Ergebnis: Die Pflanze gedeiht auch bei schlechten Bodenbedingungen und leistet darüber hinaus einen großen Beitrag, die teils stark belastete Fläche zu renaturieren!

Wie bekommen wir Baustoffe aus nachwachsenden Rohstoffen in die breite Anwendung?

Was mir in der Baubranche oft fehlt, ist der Mut zum interdisziplinären Denken. Nicht selten sind Menschen irritiert, dass ich als Agrarwissenschaftler etwas zu Baustoffen zu sagen habe. Dabei müssen wir einfach über den Tellerrand schauen, um dringend benötigte, neue Lösungen zu entwickeln! Wenn wir die großen Potenziale der nachwachsenden Rohstoffe nutzen wollen, müssen Landwirtschaft und Baubranche stärker zusammenarbeiten.

Ein positives Beispiel dafür ist das Interreg North-West Europe Projekt Circular RENO, an dem die Deutsche Energie-Agentur seit kurzem federführend beteiligt ist. Hier werden verschiedene Akteure aus den Niederlanden, Frankreich, Irland und Deutschland regelmäßig an einen Tisch zusammenkommen und gemeinsam Projekte entwickeln. Und auch das Gebäudeforum klimaneutral hat im April zusammen mit dem Netzwerk Envirobat Grand Est in Strasbourg einen deutsch-französischen Experten-Austausch zu biobasierten Baustoffen organisiert. Ich bin mir absolut sicher: Kooperationen dieser Art werden für alle Partner ein großer Gewinn sein – gerade, wenn sie länderübergreifend stattfinden.

Welche Baustoffe gibt es bereits?

Das Holz der Paulownia kann schon heute für den Bau eingesetzt werden. Um das zu demonstrieren, haben wir im Unternehmerpark Kottenforst ein ganzes Gebäude daraus gebaut. Zudem arbeiten wir unter Hochdruck daran, mit unseren Projektpartnern eine breitere Produktpalette bereitzustellen. Beispielsweise entwickeln wir aktuell gepresste Platten aus Miscanthus, die bereits kurz vor der Marktreife stehen. Sie sind schwer entflammbar und können am Lebensende zerkleinert und erneut verbaut werden, das ist einfach großartig. Zudem wird rund um das Thema nachwachsende Rohstoffe geforscht wie nie zuvor – da werden in den kommenden Jahren noch spannende neue Innovationen auf uns zukommen!

Über Prof. Dr. Ralf Pude

Prof. Dr. Ralf Pude ist Agrarwissenschaftler und Professor für Nachwachsende Rohstoffe an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

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