„Zirkuläres Bauen gelingt – wenn Hersteller mehr Verantwortung übernehmen.“
Stand: Oktober 2023Die Architektin Ute Dechantsreiter zählt zu den Pionierinnen des zirkulären Bauens in Deutschland. Seit drei Jahrzehnten arbeitet und forscht sie dazu, wie gut erhaltenen Bauteilen nach dem Abbruch neues Leben eingehaucht werden kann. Ein Interview zu Wirtschaftlichkeit, Produktverantwortung und praktischen Tipps.
Warum ist die Kreislaufwirtschaft für das Bauen und Sanieren so wichtig?
Zirkuläres Bauen schont die Ressourcen. So können wir dazu beitragen, Treibhausgasemissionen zu mindern, Energie zu sparen und Abfall zu vermeiden. Aber wiederverwendete Bauteile haben auch einen eigenen Charakter. Wir können damit Baukultur erhalten und eine neue schaffen. Mir gefällt es, mit Gebrauchtem kreativ zu sein und Teile neu zusammenzusetzen. Die wahren vorhandenen Werte zu erkennen gelingt, wenn wir genauer hinsehen. Dann bekommt der Erhalt von Gebäuden und Bauteilen Vorrang vor Abbruch und Zerstörung. Für mich sind das die Schlüsseldefinitionen von nachhaltigem Bauen.
Wenn ich als Architektin oder Bauherr einen Neubau mit wiederverwendeten Baumaterialien plane – wie gehe ich vor?
Wenn sie noch kein regionales Netzwerk im Bereich zirkuläres Bauen haben, ist der Verein bauteilnetz Deutschland ein guter Startpunkt. Er vermittelt Kontakte zu erfahrenen Entsorgungsbetrieben, Handwerkern und Planerinnen. Zudem sind dort regionale Bauteilbörsen verlinkt, in deren Onlinekatalogen Sie sich inspirieren lassen können. Dann ist die Planung entscheidend. Für Ihr Bauvorhaben – egal ob Sanierung oder Neubau – ist es wichtig, dass Abbruchunternehmer, Fachplanerinnen und die Handwerksbetriebe zusammenarbeiten.
Hat sich die Haltung der Baubranche zum zirkulären Bauen in den letzten Jahren gewandelt?
Ja, das Thema hat zum Glück richtig Fahrt aufgenommen. Gerade jüngere Menschen interessieren sich immer stärker dafür und bringen eigene Ideen mit. Start-ups wie Concular stellen sicher, dass auch im größeren Maßstab alte Bauteile neues Leben bekommen. Als Architektin kann ich hier auch Suchaufträge hinterlegen. Eine große Nachfrage sorgt letztlich dafür, dass sich mehr Leute begeistern und die Wirtschaftlichkeit steigt. Zudem haben Kommunen ihre Klimaschutzziele formuliert und sehen auch im Bereich des Bauwesens eine große Möglichkeit, CO2-Emissionen zu reduzieren. Beratungsanfragen aus Kommunen und Unternehmen zeigen mir, dass hier ein Wandel stattfindet.
Worin sehen Sie die Ursachen für das wachsende Interesse?
Erstens, dass deutlich wird, welche Auswirkungen es auf das Klima hat, Gebäude zu erstellen. Zuvor lag der Fokus vor allem auf der Nutzungsphase. Das Bauwesen bietet mit seinen hohen CO2-Emissionen einfach einen Riesenhebel. Die Rohstoffe und die Energie, die für die Herstellung des Bestands eingesetzt wurden, werden heute höher wertgeschätzt. Zweitens steigt der Wohnraumbedarf, wobei wir auf flächenfressende Neubaugebiete lieber verzichten sollten. Wir haben über Jahrzehnte in die Fläche gebaut und deponiert und stoßen an Grenzen. Da ist es logisch, dass der Bestand mehr Wertschätzung genießt und bewahrt wird. Drittens hat sich beim Abbruch die sortenreine Trennung der Materialien durchgesetzt, um gute Erlöse zu erzielen. Damit werden dann auch Recyclingprodukte für den hochwertigeren Einsatz angeboten. Und viertens sind die gestiegenen Baustoffpreise und unterbrochenen Lieferketten ein Faktor. Wenn aktuell bestimmte Materialien nicht verfügbar oder enorm teuer sind, schaue ich zwangsläufig, ob ich es nicht auch aus Abbruch gewinnen kann oder es direkt schon über die verschiedenen Plattformen angeboten wird.
Welche gesetzlichen Vorschriften gelten für wiederverwendete Bauteile?
Zu Beginn meiner Tätigkeit war es nicht einmal möglich, gut erhaltene Türen aus einem Abbruch aus dem Container zu ziehen. Im Gegenteil – Sie haben sich damit strafbar gemacht! Eine große Erleichterung hat 2012 das Kreislaufwirtschaftsgesetz gebracht. In der Abfallhierarchie wurde eine neue Stufe eingefügt, die „Vorbereitung zur Wiederverwendung“. Wobei das Wort „Abfall“ fehlplatziert ist. Mit der direkten Wiederverwendung oder der Vorbereitung dazu vermeiden wir Abfall. Hier geht es um die Erhaltung der Eigenschaften des Materials und damit den Wert. Erst dann setzt das „Recycling“ ein, bei dem das Material nach einem zusätzlichen Energieeinsatz in veränderter Form genutzt wird. Ich plädiere dafür, das Gesetz noch konsequenter anzuwenden. Damit wäre viel gewonnen für das zirkuläre Bauen.
Werden Bauteile vor der Wiederverwendung auf Sicherheit und Qualität geprüft?
Gebrauchte Bauteile müssen die technischen Anforderungen an ihren neuen Einsatzort selbstverständlich erfüllen. Dabei muss man klar differenzieren, um welches Bauteil es geht. Bei einem funktionstüchtigen Waschbecken reicht eine Kontrolle per Augenmaß. Anders verhält es sich bei Steinen, die zum Beispiel für ein Verblendmauerwerk eingesetzt werden sollen. Da geht es dann neben der Druckfestigkeit auch um die Wasseraufnahmefähigkeit und Frostbeständigkeit. Um sicher zu gehen, sollte eine Materialprüfanstalt draufschauen. Auch Umweltinstitute oder der TÜV haben in der Regel Expertisen, um Baustoffe und Bauteile auf ihre funktionellen Eigenschaften und Qualität zu prüfen.
Rechnet sich dieser Aufwand für den Bauherren?
Das hängt vom Umfang des Auftrags ab. Wenn sie 30.000 Mauersteine wiederverwenden wollen, hochwertiges Eichenparkett, Treppen oder serielle Bauteile, ist eine Begutachtung durchaus wirtschaftlich.
Wie kommen wir dahin, dass noch mehr Verantwortliche auf zirkuläres Bauen setzen?
Für mich ist ein ganz entscheidender Faktor, die Hersteller mit ins Boot zu holen – auch nach der ersten Nutzungsphase. Denn die Produktverantwortung liegt meiner Meinung nach bei ihnen. Das heißt für mich, es sollte eine Rücknahmeverpflichtung geben. Sie sind die Experten für ihre Produkte. Deswegen wäre es total sinnvoll, wenn sie ihre gebrauchten Baustoffe und Produkte prüfen und aufarbeiten würden und eine neue Garantie aussprechen. Mit der Sicherheit steigt auch das Interesse. Ein Beispiel für eine Herstellerinitiative im Stoffbereich ist Rewindo: Das Unternehmen sammelt unter anderem alte Kunststofffenster und gewinnt aus ihnen wiederverwertbares Rezyklat, um neue Fenster herzustellen. Die Lebenszyklusbetrachtungen, vor allem die Bilanzierung der Herstellung – der Einsatz von Rohstoffen und CO2-Emissionen – sollten bei Neubauten verbindlich eingepreist werden. Förderungen für den Wiedereinsatz oder die Verwendung von Sekundärmaterial würden das zirkuläre Bauen ankurbeln.
Was ist Ihnen dabei noch wichtig?
Die öffentliche Hand hat eine Vorreiterrolle. Sie hat die Möglichkeit, Dinge anders zu machen und sich beispielsweise bei Neubau und der Unterhaltung von Liegenschaften selbst Quoten für wiederverwendete Bauteile und Baustoffe zu setzen. Für den Rückbau von Gebäuden sollte ein Konzept verfolgt werden, das die Verwendungs- und Verwertungswege aufzeigt, bilanziert und dokumentiert.
Wie kann das für zirkuläres Bauen gelingen?
Ressourcen schonen, Bestand bewahren und nachhaltig mit Baumaterialien umgehen – das sollte bei Planung und Umsetzung gefördert werden. Das Mittel der Wahl sollte dabei nicht ausschließlich die CO2-Bilanzierung sein. Die Betrachtung der grauen Energie ist wichtig, aber nicht der einzige Indikator nachhaltigen Bauens. Wer zum Beispiel mit Recyclingbeton oder wiederverwendeten Stahlträgern baut, sollte über die KfW- und der BAFA-Förderung neben der CO2-Betrachtung auch einen Bonus für den Einsatz von Sekundärbaustoffen erhalten. In den BNB- und DGNB-Zertifizierungen gibt es dazu gute Ansätze, die noch Luft nach oben haben. Wichtig ist es, für die Planungsentscheidungen objektive, konsistente Bewertungsgrundlagen und Produktdatenblätter zu schaffen. Zirkularität muss ein Grundsatz von Neubau und Sanierung sein; in jedem Gewerk mit besonderer Beachtung der Schnittstellen.
Wie schaffen Sie es, Materialien so einzusetzen, dass sie leichter wiederverwendet werden können?
Ich favorisiere demontierbare Systeme. Das können Steck- oder Klemmverbindungen sein – nach dem Motto: „Schrauben statt nageln“. Wenn die Schrauben allerdings verspachtelt werden und Sie sie nicht wiederfinden, ist niemandem geholfen. Daher gilt es, den Neubau schon bei der Planung rückwärtszudenken: vorab darauf achten, dass die Materialien gut trennbar sind, Bauteile schadensfrei ausgebaut und Stoffe sortenrein wiederverwertet werden können. Dazu gehört natürlich auch, keine aggressiven Farben, Beschichtungen oder Kleber zu nutzen. Das Bauen mit weniger Materialvielfalt wie mit Holz, Lehm und Stroh hat Tradition und ist heute wieder hochaktuell. Wir können uns zum Beispiel beim Fachwerkbau oder Massivlehmbau sehr viel abgucken. Die Überführung in den modernen Lehmbau hat bereits stattgefunden.
Was sind Ihre Lieblingsprojekte?
Ich bin lange Zeit Sanierungsarchitektin gewesen. Mein Lieblingsprojekt ist das Mädchenkulturhaus hier in Bremen. Dort haben wir vor über 30 Jahren für das Bundesbauministerium die Wiederverwendung von Bauteilen bei der Sanierung von sechs Bremer Häusern erprobt. Von den damals eingebauten Bauteilen sind bis auf einige Sanitärobjekte alle Bauteile noch vorhanden und funktionstüchtig. Aber auch der Neubau der Stadtwerke im holsteinischen Neustadt ist für mich von Bedeutung. Grundsätze für die Planung waren der Wiedereinsatz von Materialien und die Rückbaufähigkeit des Gebäudes. Hier wurden beispielsweise 300 Quadratmeter Bürotrennwände aus einer Abbruchmaßnahme genutzt. Dadurch konnten 26.000 Kilowattstunden Prozessenergie eingespart werden, die für die Herstellung nötig gewesen wären – so viel, wie zehn Haushalte in einem ganzen Jahr verbrauchen. Das alles zeigt: Die technischen Möglichkeiten und Lösungen für zirkuläres Bauen sind da. Was es vor allem braucht, sind interdisziplinäres Planen und gemeinsames Anpacken!
Über Ute Dechantsreiter
Ute Dechantsreiter ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes bauteilnetz Deutschland e.V. Seit September 2023 leitet sie zudem das Bündnis Kreislaufwirtschaft Bauwesen Metropolregion Nordwest. Rund 40 Institutionen setzen sich gemeinsam für Wiederverwendung und Recycling in der Bauwirtschaft ein – entlang der gesamten Wertschöpfungskette, von Kommunen über die Forschung und die Lehre bis zu Unternehmen.