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„Gebäude als Abfallberg oder urbane Mine? Wir haben die Wahl“

Stand: Oktober 2024
Foto, Annette Hillebrandt

Warum verpasst Deutschland bisher die Chance, zu den Vorreitern der zirkulären Bauwirtschaft zu gehören? Im Interview teilt Annette Hillebrandt, Professorin für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde, ihre Sicht auf die Transformation der Bauwirtschaft und erläutert, warum präzise Definitionen, Transparenz und neue Technologien entscheidend sind. Sie spricht über Greenwashing, innovative Baustoffe und wie ein Gebäuderessourcenpass den tatsächlichen Wert von Immobilien messbar macht.

Warum ist die Transformation zu einer zirkulären Bauwirtschaft so entscheidend? 

Große Player der deutschen Wirtschaft verpassen gerade die Transformation zum nachhaltigen Wirtschaften in den Grenzen der Weltkapazität ­– siehe VW. Sie versuchen, mit den alten Methoden der fossilen Linearwirtschaft weiterhin Geld zu machen. Kurzfristige Aktionärsdividenden vor Investitionen in die Zukunft der Unternehmen. Andere Volkswirtschaften laufen uns den Rang ab. Wir lassen uns sehenden Auges abhängen, so auch im Bauwesen. Die Niederlande erreichen zum Beispiel aktuell schon eine zirkuläre Nutzungsrate von Material, die sogenannte Circular Material Use Rate, von über 33 Prozent. In Deutschland liegt sie bei knapp 13 Prozent, nur leicht über dem EU-Durchschnitt von ca. 12 Prozent – von wegen „Recycling-Weltmeister“. Die Niederländer sind auf dem Weg zur Zirkularwirtschaft, nicht wir.  

Sie beraten das Umweltbundesamt zum nachhaltigen Bauen. Welchen Beitrag leistet Ihre jüngste Studie zur Transformation? 

Ich hoffe, sie rüttelt auf! Denn sie klärt auf über Missstände und Fehlentwicklungen und macht den Politikern jede Menge Vorschläge, wie verhindert werden kann, dass unsere Bauwirtschaft den Anschluss verpasst.

Warum sind klare Definitionen von „Nachverwendung“ und „Nachverwertung“ im Bauwesen so wichtig? 

Zurzeit herrscht „babylonisches Sprachgewirr“. Jeder benutzt die Worte „Recycling“ oder gar „Upcycling“, wie er Lust hat. Dabei handelt es sich bei der Nachverwertung nur um ein Recycling, wenn das neue Sekundärprodukt a) die gleiche Leistungsfähigkeit erreicht wie das Altprodukt und b) wenn zur Produktion weder neues Material hinzugefügt werden muss noch nennenswert altes, also zum Beispiel Schadstoffe, ausgeschleust werden müssen. Das ist aber schwierig und selten. Das Gleiche gilt bei den Nachverwendungsbegriffen: Da wird von „Wiederverwendung", also „ReUse" geredet, wenn ehemalige Außenfenster nun als Innenraum-Trennung verwendet werden. Aber das ist lediglich – eindeutig formuliert – „Weiterverwendung“, schlechteres Leistungsniveau, beispielsweise weil die U-Werte für Außenverglasung gar nicht mehr erreicht werden können. Wir vergleichen also durch ungenaues Vokabular Äpfel mit Birnen.

Wie verbreitet ist Greenwashing in der Bauwirtschaft und welche Maßnahmen helfen, es zu verhindern? 

Dazu habe ich keine Statistik, aber ein Blick ins Internet genügt. Da preist einer seine neue Nachhaltigkeitsstrategie an, die darin besteht, gebrauchte Bauschaumkartuschen von nun an dem gelben Sack zuzuführen. Dabei ist die Verklebung durch Bauschaum an sich schon Mist, führt zu großem Stundenaufwand im Rückbau und torpediert die sortenreine Sortierung. Solche – eigentlichen Lachnummern – gibt es zuhauf! Leider versteht der Laie das gar nicht und denkt, dass er beim Kauf eines solchen Produktes etwas Gutes getan hätte. Aber viel tragischer ist es, dass zum Beispiel der Bundesverband Baustoffe, Steine und Erden in seinem jährlichen Monitoringbericht tatsächlich behauptet, geschlossene Stoffkreislaufe zu erreichen. Dabei landet der Abbruch einer Betonwand im Straßenbau! Ein geschlossener Stoffkreislauf wäre es, wenn man daraus wieder eine Betonwand machen könnte, aber es ist einen Haufen Geröll, keine Wand. Ohne Zusatz von neuem Zement und Wasser ist das Downcyclingmaterial, tausende Tonnen jährlich.

Was sind die wichtigsten Merkmale des vorgeschlagenen Material-Kreislauf-Labels? 

Mit dem Kreislauflabel schaffen wir Transparenz über – ich nenn das mal – „zirkuläre Baustoffmerkmale“. In einfachen Balkendiagrammen kann dargestellt werden a) wie hoch ist der Sekundärrohstoffanteil aktuell im Produkt und zum Vergleich: wie hoch könnte er eigentlich sein. Das messen wir in Prozent vom Gesamtprodukt. Das technisch mögliche Maximum kann belegt sein durch die Daten des nachhaltigsten Produkts auf dem Markt, also Best Practice, aber auch durch Forschungsergebnisse. Außerdem wird abgebildet b) über welches Nachverwertungspotenzial das Produkt aktuell verfügt und welches Nachverwertungs-Potenzial maximal möglich wäre. Das messen wir in Anteilen am Closed-Loop, der 100 Prozent wäre. Und schließlich c) benennen wir den aktuellen End-of-Life-Weg, um zu zeigen, welche – ­höchstwahrscheinlich – Materialverschwendung zurzeit herrscht. Ich rede von wir, weil das unsere laufende Forschung an der Uni Wuppertal ist. 

Wie soll das Label die Transparenz über die Kreislauffähigkeit von Bauprodukten erhöhen? 

Mit dem Kreislauflabel können auf sehr einfache Weise zirkuläre Qualitätsvergleiche gezogen werden. Man erkennt auf den ersten Blick den Unterschied zum Beispiel einer Hanfdämmung, die mit Plastikbindemittel hergestellt wurde und am Nutzungsende nur noch verbrannt werden kann. Und einer Hanfdämmung, die mit Lignin gebunden wurde – das ist der holzeigene Kleber – und die am Ende wieder kompostiert werden kann. Die ligningebundene Variante kann unter Biogas-Entwicklung wieder zu Nährstoffen im biotischen Kreislauf werden, während die andere nur unser CO2- und Müllproblem verstärkt.

Welche Vorteile bringt der digitale Gebäuderessourcenpass?

Der digitale Ressourcenpass gibt schlichtweg Auskunft über den wahren Wert einer Immobile, unabhängig von Standort und Vermietbarkeit. Besitze ich einen Haufen teuer zu entsorgenden Abfall, zum Beispiel Downcycling-Betonwände mit verklebter Sondermüll-Kunststoffdämmung und Putz, oder besitze ich eine „urbane Mine“. Dem wäre der Fall, wenn der Rückbau kostenneutral wäre oder es sogar Geld zurückgäbe. Beispielsweise durch den Verkauf von Metallen, leicht rückbaubaren Holzelementwänden, großformatigen Fassadentafeln aus Naturstein beziehungsweise Glas, naturbelassenen Eichenholzdielen als Bodenbelag oder auch durch Rückgabe von lediglich gemieteten Baustoffen. Da gibt es ja zum Beispiel schon lange einen Teppichhersteller der „Product-as-a-Service“ anbietet.

Und wie könnte der Gebäuderessourcenpass praktisch umgesetzt werden?

Dazu gibt es schon sehr genaue Vorstellungen, zum Beispiel der DGNB oder von Madaster. Entscheidend ist aber, womit diese Berechnungswerkzeuge gefüllt werden – da sind wir wieder beim Material-Kreislauflabel.

Wie sollte die Verantwortung für die Kreislauffähigkeit eines Gebäudes entlang der Bauwertschöpfungskette verteilt werden?

Ganz klar bleibt die Gesamtverantwortung für das Gebäude bei der Investorin, der Immobilienbesitzerin oder dem Bauherren. Sie entscheiden durch ihre Investition darüber, ob das Gebäude eine urbane Mine wird oder ein Abfallberg. Das Ergebnis ist im Gebäude-Zirkularitätsindikator des Ressourcenpasses dargestellt. Die Planer, Architekten, Statiker und Bauleiter sind dafür verantwortlich, dass ein Gebäude errichtet wird, das am Nutzungsende auch sortenrein zurückgebaut werden kann. Um das zu erreichen, muss zunächst lösbar gefügt werden. Zudem sollten zirkuläre Produkte ausgewählt und verwendet werden. Das wird dann beides in den Bauteil-Zirkularitätsindikatoren dokumentiert. Aber alles fußt auf den Produkt-Zirkularitätsindikatoren der Baustoffhersteller, abgebildet in den Material-Kreislauflabeln. Ohne anständige Produkte kein anständiges Haus.

Welche Baumaterialien eignen sich besonders gut für die Nachverwendung, und was sind die praktischen Herausforderungen dabei?

Ich will nochmal unterscheiden: Für die Nachverwertung – also zerschreddern und neu aufbereiten – eignen sich alle Metalle gut. Auch weil ihr CO2-Footprint mit jedem Recycling drastisch sinkt. Aber die Herausforderung ist hierbei dennoch die Transformation zur treibhausgasfreien Herstellung. Alle biogenen Dämmungen eigenen sich gut, Herausforderung ist hier die Sortenreinheit, also keine Plastik-Bindemittel. Auch Schaumglasdämmungen eignen sich perfekt. Es gibt einen Hersteller, der diese Perimeterdämmungen jetzt schon zu 100 Prozent aus Altglas herstellt, und sie sind zu 100 Prozent recyclingfähig. Dabei auch noch druckfest, wasserdicht und leicht zu verarbeiten: ein Traumprodukt… Und für die Nachverwendung, also den ReUse eignen sich alle Bauteile, die leicht zurückzubauen und schadstofffrei – das ist immer das Wichtigste – sowie dauerhaft, verrottungsfest und großformatig sind. Beispiele sind alte Holzbalken, vorgehängte Natursteinplatten von Fassaden oder auch hochwertige Vormauerklinker. Hier liegt die Aufgabe darin, dass die Ziegel vom Mörtel befreit werden müssen. Zukunftsweisend ist hier ein Hersteller, der für den späteren Rückbau ein Trockenmauersystem mit Edelstahlklammern anbietet ohne Mörtelverklebung, eine tolle rückbaubare und dauerhafte Erfindung!

Welche technologischen Innovationen könnten die Zirkularwirtschaft im Bauwesen maßgeblich voranbringen? 

Floatglasrecycling. Stand jetzt ist das nämlich ein Downcycling-Produkt. Nur ca. 30 Prozent kann aktuell der Anteil an altem Floatglas in neuen Gläsern sein. Das heißt, wir kriegen die riesigen Stoffströme aus dem Rückbau der Frankfurter Hochhäuser (lacht) nicht weg. Und zu jeder neuen Fensterscheibe muss 70 Prozent neues Material zugefügt werden, aber der Sand wird eh schon knapp. Da muss man ran!

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Bauwirtschaft im Jahr 2045 aus, wenn die Transformation zur Zirkularität erfolgreich umgesetzt wird?

Davon könnte ich jetzt lange und detailliert schwärmen! Ich kürze mal ab: Wir haben die Zirkularwirtschaft erreicht. Die Wertschöpfung unserer Wirtschaft basiert auf Pflegen, Reparieren, Verleihen, Aufarbeiten, Wiederverwenden und Recyclen und dem Kultivieren von nachwachsenden Baustoffen. Wir können auf naturzerstörenden, kolonialen Raubbau in anderen Ländern verzichten. Lieferkettenprobleme durch Kriege und Handelseinschränkungen gibt es EU-weit nicht mehr. Wir sind, was Ressourcen betrifft, autark. Abfälle gibt es nur durch den Rückbau der alten Gebäude aus der Zeit der Linearwirtschaft – dieser unverständlichen Sackgasse … (lacht).

Zur Studie

Als Mitglied der Kommission Nachhaltiges Bauen am Umweltbundesamt (KNBau) hat Prof. Annette Hillebrandt mit zwei Kollegen im Juni 2024 die Studie „Transformation zu einer zirkulären Bauwirtschaft als Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung“ veröffentlicht.

Download der Studie

Über Prof. Annette Hillebrandt

Annette Hillebrandt ist seit 1995 selbständig tätige Architektin. Nach Professuren in Kaiserslautern und Münster (seit 2001) hat sie seit 2013 die Professur für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde an der Bergischen Universität Wuppertal inne. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf den Kreislaufpotenzialen im Hochbau.

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