„Ich verbaue nur, was ich auch in den Mund nehmen würde“
Stand: Dezember 2024Ist nachhaltiges Bauen und Sanieren wirklich teurer? Und warum ist es oft sinnvoller, alte Fenster zu erhalten, statt sie auszutauschen? Der Holzmechaniker und Architekt Dag Schaffarczyk fordert ein radikales Umdenken: Weg von schematischen Lösungen hin zu Suffizienz und klugen Sanierungsansätzen. Ein Interview mit überraschenden Einsichten.
Herr Schaffarczyk, wenn wir über klimaneutrales Bauen sprechen, denkt man oft an Lösungen wie Dreifachverglasung oder Wärmepumpen. Sie vertreten einen ganz anderen Ansatz. Warum?
Das Problem liegt darin, dass diese Lösungen oft nur den Energieverbrauch im Betrieb optimieren, nicht aber die gesamte CO₂-Bilanz. Der Austausch von zweifachverglasten Fenstern gegen eine Dreifachverglasung ist ein gutes Beispiel: Die Herstellung, der Transport und die Montage verursachen so viel CO₂, dass es Jahrzehnte dauert, bis die Einsparung durch den besseren Wärmeschutz das wieder wettmacht. In der immer dramatischeren Klimakrise haben wir diese Zeit nicht. Unser Ansatz ist deshalb: vorhandene Materialien nutzen und durch kleine Eingriffe optimieren.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie Sie in solchen Fällen vorgehen?
Natürlich. Bei bestehenden Fenstern setzen wir oft auf eine Nachrüstung: Eine zusätzliche Dichtung oder der Austausch der inneren Glasscheibe gegen eine moderne Variante können den Wärmeschutz erheblich verbessern. Dadurch entfällt sowohl die energieintensive Produktion als auch der Transport neuer Fenster komplett. Ähnliche Ansätze gibt es für viele Bauteile, von Türen bis hin zu Heizsystemen.
Das klingt pragmatisch. Wie entscheiden Sie, ob eine Nachrüstung genügt oder doch ein Austausch notwendig ist?
Das hängt vom Zustand des Gebäudes ab. Ein einfachverglastes Fenster aus den 1960er-Jahren werden wir eher ersetzen. Bei zweifachverglasten Fenstern oder denkmalgeschützten Objekten schauen wir genau hin: Was ist technisch möglich? Wie hoch ist der CO₂-Aufwand? Die Entscheidungen sind immer individuell und basieren auf einer genauen Analyse des Gebäudes.
In Ihrer Arbeit betonen Sie auch den sommerlichen Wärmeschutz. Weshalb ist der so wichtig?
Weil wir zunehmend mit heißen Sommern zu kämpfen haben. Bisher liegt der Fokus beim Bauen und Sanieren fast ausschließlich auf dem Winterwärmeschutz, aber das wird der Realität nicht mehr gerecht. Dabei gibt es bereits sehr effiziente Lösungen: Beim sommerlichen Wärmeschutz nutzen wir etwa das Prinzip der Phasenverschiebung. Es beschreibt, wie lange es dauert, bis sich Wärme von außen durch die Bauteile eines Gebäudes nach innen ausbreitet. Bei Materialien mit hoher thermischer Masse, wie Lehm, Holz oder Hanf, wird diese Wärmeverlagerung stark verzögert. Das bedeutet, dass die Hitze, die tagsüber durch Sonneneinstrahlung entsteht, erst viele Stunden später – idealerweise erst nach Sonnenuntergang – spürbar wird. So bleibt es im Sommer angenehm kühl, ohne Klimaanlagen oder andere energieintensive Systeme.
Aber was, wenn auch natürliche Maßnahmen an ihre Grenzen stoßen – etwa bei besonders heißen Nächten?
Dann greifen wir auf zusätzliche Maßnahmen zurück, etwa wassergeführte Deckenheiz- und Kühlsysteme. Diese lassen sich mit nachhaltigen Baustoffen wie Lehmputz kombinieren. Entscheidend ist, die Systeme so zu planen, dass sie mit möglichst wenig Energie auskommen und langlebig sind.
Was sind die Vorteile von Naturbaustoffen gegenüber synthetischen Materialien?
Naturbaustoffe wie Lehm, Hanf oder Holz bieten viele funktionale Vorteile: Sie regulieren die Feuchtigkeit, verbessern das Raumklima und haben die erwähnten Vorteile für den sommerlichen Wärmeschutz. Außerdem sind Naturbaustoffe ohne großen Energieaufwand verarbeitbar und meist regional verfügbar, was Transportwege und Emissionen reduziert. Sie dienen gleichzeitig als CO2-Speicher. Zudem sind sie auch vielseitig einsetzbar, sei es in Dämmungen, Putz oder Baukonstruktionen. Und was häufig kaum Beachtung findet, mir aber sehr am Herzen liegt: Im Vergleich zu anderen Baustoffen sind sie für die Gesundheit völlig unbedenklich.
Inwiefern?
Baustoffe beeinflussen direkt die Gesundheit der Menschen, die in den Gebäuden leben und arbeiten. Viele synthetische Materialien geben Schadstoffe ab, die Atemwegserkrankungen oder Allergien begünstigen können. Naturbaustoffe hingegen sind frei von solchen Belastungen. Ich verbaue nur, was ich auch in den Mund nehmen würde. Dieses Prinzip, das ich von einem Bauherren übernommen habe, bringt es auf den Punkt: Materialien sollten so unbedenklich sein, dass wir sie immer in unserer Nähe haben wollen. Das sorgt nicht nur für ein besseres Wohnklima, sondern ist auch ein Beitrag zu langfristiger Gesundheit.
Wie sieht das Wärme- und Energiekonzept eines idealen Neubaus aus, wenn er denn notwendig ist?
Mein idealer Neubau ist so reduziert wie möglich. Keine zentrale Heizung, sondern punktuelle Infrarotheizungen. Keine zentrale Warmwasserversorgung, sondern Durchlauferhitzer. Die Technikreduzierung bedeutet auch: keine hohen Wartungs- und Instandhaltungskosten. Die Energie kommt von einem Solardach, das gleichzeitig die Dachhaut ersetzt. Alles wird so geplant, dass möglichst wenig Ressourcen verbraucht werden – und das zu vertretbaren Kosten.
Ein Vorurteil ist, dass Naturbaustoffe teurer sind. Stimmt das?
Das ist ein Märchen. Wenn man bedenkt, was wir durch den Verzicht auf komplexe Technik und unnötige Bauteile einsparen, sind Projekte mit Naturmaterialien oft sogar günstiger. Bei einem unserer Modulhäuser verzichten wir auf zentrale Warmwassersysteme, Heizungspumpen oder Betonfundamente. Diese Reduktion spart Geld und Ressourcen.
Nachhaltiges Bauen wird oft mit Neubauten assoziiert. Wie sehen Sie das?
Sanierung ist in fast allen Fällen die ressourcenschonendere Option, den Neubau sollten wir auf ein Minimum reduzieren. Unsere Arbeit fokussiert sich daher stark auf Bestandssanierung, Denkmalschutz und Umnutzung. Wenn wir sanieren, geht es immer darum, den CO₂-Ausstoß so gering wie möglich zu halten und bestehende Materialien weiterzuverwenden.
Welche konkreten Schritte leiten sich daraus ab, wenn Sie ein Projekt planen?
Das beginnt immer mit einer genauen Analyse. Wir prüfen, was erhalten und optimiert werden kann, und planen dann minimalinvasive Maßnahmen. Ein Beispiel ist das denkmalgeschützte Gebäude aus dem Jahr 1911 am Theodor-Heuss-Platz in Berlin, in dem wir wohnen und arbeiten: Wir haben Dachziegel wiederverwendet, Naturbaustoffe eingebracht und mit einfachen Mitteln die Energieeffizienz erhöht. Unser Vermieter hat dank unserer Planung bei der Sanierung viel Geld gespart!
Sie engagieren sich auch in der Weiterbildung. Was ist Ihre Motivation?
Mein Antrieb ist ganz einfach: Wir brauchen ein Umdenken in der Baubranche, und das beginnt mit Wissen. Auch Fachleute wissen oft nicht, welche Alternativen es überhaupt gibt und wie viel Potenzial in suffizienten und nachhaltigen Ansätzen steckt. Mein Ziel ist es, dieses Wissen zugänglich zu machen – sei es für Architekten, Handwerkerinnen oder Bauherren.
Das ist auch der Auftrag der von Ihnen initiierten Naturbauschule?
Genau. Mit unserer Naturbauschule bieten wir praxisnahe Weiterbildung an, um zu zeigen, dass nachhaltiges Bauen weder kompliziert noch teuer sein muss. Mir ist wichtig, den Teilnehmern nicht nur Techniken, sondern auch ein neues Verständnis für Ressourcen und Suffizienz zu vermitteln. Wenn am Ende jemand sagt: „Das hätte ich nie gedacht, aber ich setze es jetzt um“, dann weiß ich, dass wir etwas bewegen.
Was muss sich in der Baubranche ändern, damit wir einen echten Schritt zu mehr Nachhaltigkeit schaffen?
Die Branche ist geprägt von Gewohnheiten und wirtschaftlichen Interessen. Diese Strukturen zu durchbrechen, ist nicht leicht. Es braucht mehr Menschen, die den Mut haben, alte Pfade zu verlassen – denn Nachhaltigkeit beginnt oft dort, wo wir bereit sind, das Bestehende zu hinterfragen. Ich sehe viel Potenzial, gerade wenn ich mich mit jungen Architektinnen und Architekten austausche. Leider sitzen sie oft noch nicht an den wichtigen Schalthebeln, um den Suffizienzgedanken in die Breite zu tragen.
Sie fordern auch eine andere Form der Bau- und Sanierungsförderung?
Gesetzgeber und Fördermittelgeber müssen aufhören, immer nur die Lösungen zu fördern, die im Betrieb energetisch am „besten“ sind. Häufig sind diese Lösungen in der Herstellung und Umsetzung CO₂-intensiv. Förderprogramme sollten suffiziente Ansätze unterstützen, die mit weniger Ressourceneinsatz auskommen – und vor allem kurzfristig CO₂-Emissionen senken. Denn die Klimauhr tickt unerbittlich!
Sie gelten als Ökoinnovator. Sehen Sie sich selbst auch so?
Auf keinen Fall! Ich bin jemand, der bewährte Prinzipien wieder ins Bewusstsein bringt. Früher war es selbstverständlich, mit Materialien wie Lehm oder Stroh zu bauen, weil sie lokal verfügbar und nachhaltig waren. Heute gelten solche Ansätze als innovativ – dabei sind sie vor allem eines: pragmatisch und zukunftsfähig. Unser Ansatz verbindet traditionelles Wissen mit modernen Lösungen, um Ressourcen zu schonen und Gebäude klug zu optimieren.
Über Dag Schaffarczyk
Dag Schaffarczyk ist Geschäftsführer der Spreeplan Projekt UG und ein Verfechter nachhaltigen und gesunden Bauens. Nach seiner Ausbildung zum Holzmechaniker studierte er Architektur und sammelte über 30 Jahre Erfahrung in der Planung und Umsetzung ökologischer Bauprojekte. Mit der Naturbauschule engagiert er sich für Bildung im Sinne der Nachhaltigkeit und möchte vor allem eins: Menschen dazu inspirieren, mit wenig mehr zu erreichen.
Netzwerkpartner des Gebäudeforums klimaneutral
Die Naturbauschule ist Partner im Netzwerk des Gebäudeforums klimaneutral. In Seminaren und Workshopswerden seit über 20 Jahren Fachwissen rund um das Thema des wohngesunden Bauens und Sanierens vermittelt. Die Teilnehmenden erhalten eine ganzheitliche Bildung rund um das Thema Nachhaltigkeit, Wohngesundes Bauen und Sanieren sowie Baubiologie. Dadurch werden sie befähigt, die Lerninhalte in ihrem Alltag oder ihren eigenen Projekten praktisch anzuwenden oder ihr Wissen an Dritte weiterzuvermitteln.