Entwicklung der Ganzheitlichen Bilanzierung (GaBi) – von der Forschung in die Praxis
Stand: November 2024
Ganzheitliche Bilanzierung (GaBi) ist ein Begriff, der oft im Kontext von Lebenszyklusanalysen (LCA) und ökologischen Fußabdrücken verwendet wird. Es handelt sich dabei um einen Ansatz zur Bewertung der Umweltauswirkungen von Produkten, Prozessen oder Dienstleistungen über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg, mit ökonomischen und sozialen Implikationen. Die diversen Methoden der GaBi sind in ein gleichnamiges Software-basiertes Tool eingebettet, das in diesem Arbeitsbereich weit verbreitet ist.
Die wesentliche Innovation von GaBi besteht in der ganzheitlichen Lebenszyklusanalyse von Industrieprodukten, die nicht nur die Nutzungsdauer, sondern auch den gesamten Zeitraum von der Herstellung bis zur Entsorgung oder dem Recycling einbezieht. Die Methoden der GaBi berücksichtigen dabei sowohl wirtschaftliche als auch ökologische, soziale und technische Aspekte zur Bewertung der Produkte. Die ganzheitliche Bilanzierung dient als Hilfsmittel zur Unterstützung der Planung und Entwicklung neuer Produkte oder Systeme. Sie berücksichtigt dabei besonders die Identifizierung von Schwachstellen, um eine Optimierung des Systems zu erreichen.
Ursprung im universitären Umfeld
Die GaBi kommt ursprünglich aus dem universitären Umfeld und basiert auf umfangreicher Forschung in den Bereichen Umweltwissenschaften, Ingenieurwesen und Ökonomie. Diese Forschung, häufig in Form von Dissertationen, studentischen Arbeiten oder anderweitigen Veröffentlichungen, bereitet die theoretischen Grundlagen für die Methoden und Modelle, die in der GaBi-Software verwendet werden. Oftmals werden neue Ansätze zunächst in Pilotprojekten getestet, um ihre Praktikabilität für die freie Wirtschaft zu prüfen. Unternehmen können so Erfahrungen sammeln und Anpassungen vornehmen. So ist es möglich, Schritt für Schritt neue Erkenntnisse und Methoden einzupflegen.
Ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung der Software ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit aus Forschung, Politik und Wirtschaft. In Kombination mit ständigen Feedbackschleifen konnte die Methode und zugehörige Software den heutigen Bekanntheitsgrad als etabliertes und international anerkanntes Tool erlangen.
Von der Universität in die Industrie
Die Idee für eine fundierte und umfassende Bilanzierung, die den gesamten Lebenszyklus erfasst, wurde an der Universität Stuttgart entwickelt. Die Abteilung „Ganzheitliche Bilanzierung" wurde im Jahr 1989 am Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde (IKP) an der Universität Stuttgart gegründet. Aufgrund dessen bezog sich die erste Veröffentlichung „Ganzheitliche Bilanzierung von Produkten und Verfahren" auf eine Einzelfallbetrachtung aus der Kunststoffbranche.
Der Plan, die wissenschaftlichen Methoden in eine Softwareumgebung zu überführen, bestand bereits in der frühen Konzeptphase. Außerdem wurden Wirtschaftsvertreter bei der Vorstellung erster Ideen im Rahmen der Entwicklung der Abteilung mit einbezogen. Die Abteilung an der Fakultät zur ganzheitlichen Bilanzierung entstand demnach in engerer Zusammenarbeit mit der Industrie. Aus diesem Grund ist die GaBi-Software so konzipiert, dass sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auf einfache und klare Weise integriert, um konkret einen Mehrwert innerhalb eines wirtschaftlichen Unternehmens zu schaffen.
In der Anfangsphase der Entwicklung lag der Schwerpunkt auf der grundlegenden Funktionalität und Methodik der Software. Zu diesem Zeitpunkt existierte noch keine verfügbare Datenbasis, sodass die erforderlichen Daten schrittweise selbst, teilweise in Kooperation mit der Industrie, erarbeitet werden mussten. Daher richtete sich der Fokus zunächst auf Einzelfallanalysen, insbesondere im Bereich unterschiedlicher Materialien und später einzelner Verfahren.
Die erste Version der GaBi-Software erschien im Jahr 1992, drei Jahre nach der Gründung der gleichnamigen Abteilung. Im Jahr 1996 wurde schließlich zum ersten Mal eine vollständige Bilanz für das Automodell „Golf" von Volkswagen (VW) erstellt, was ein bedeutender Meilenstein war. Der Erfolg zeigte anschaulich das Potential der Methode auf, denn er demonstrierte erstmals die Realisierbarkeit für komplexe Systeme und gleichzeitig den Mehrwert für strategische Unternehmensentscheidungen. Die Ergebnisse zeigten, wie durch gezielte Maßnahmen Umweltauswirkungen reduziert werden können.
Mit dem Erfolg des VW-Golf-Projekts wuchs das Interesse an der GaBi-Methode in verschiedenen Industrien. Die Software traf auf großes Interesse in verschiedenen Branchen, wie Automobilbau und Bauwesen.
Parallel dazu wuchs in der Wirtschaft das Interesse an Nachhaltigkeit. Unternehmen erkannten zunehmend, dass eine transparente Berichterstattung über Umweltauswirkungen nicht nur regulatorischen Anforderungen entsprach, sondern auch Wettbewerbsvorteile verschaffen konnte. Die GaBi-Methode entwickelte sich somit zunehmend zu einem wichtigen Instrument für Unternehmen, um ihre Nachhaltigkeitsstrategien zu entwickeln und umzusetzen.
Zeitliche Entwicklung politischer Rahmenbedingungen und der Abteilung GaBi
Die Normenreihe „DIN EN ISO 14040: Umweltmanagement - Ökobilanz - Grundsätze und Rahmenbedingungen“ wird veröffentlicht. Die Norm ist Teil einer Reihe, die sich mit Umweltmanagement und insbesondere mit der Lebenszyklusanalyse beschäftigen. Sie wurden entwickelt, um einheitliche Rahmenbedingungen und Leitlinien für die Durchführung von Lebenszyklusanalysen zu schaffen, damit Unternehmen und Organisationen ihre Umweltauswirkungen systematisch bewerten können. Die Ökobilanz ist ein Teil der ganzheitlichen Bilanzierung und heute durch die Normenreihe DIN EN ISO 14040 standardisiert.
Außerdem werden die ersten Veröffentlichungen zum Thema „Methodik der Lebenszykluskostenanalyse (Life Cycle Costing - LCC) und -planung“ und die Erweiterung der Methodik der GaBi um kostenbezogene Analysen unter Betrachtung von Systemgrenzen, Randbedingungen und getroffenen Annahmen von der Abteilung GaBi publiziert. Darüber hinaus findet die ökobilanzielle Betrachtung nun nicht nur in Bezug auf einzelne Produkte Anwendung, sondern auch vermehrt auf ganze Verfahren.
Das Buch „Ökologische Bilanzierung von Baustoffen und Gebäuden – Wege zu einer ganzheitlichen Bilanzierung“ wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Abteilung GaBi veröffentlicht. Die wesentlichen Kernpunkte der Veröffentlichung beinhalteten die Erstellung einer konsistenten Datenbasis mit vergleichbaren Systemgrenzen und der Entwicklung einer Methodik zur Bilanzierung von Gebäuden. Dieses Forschungsvorhaben wurde von zahlreichen Industriepartnern begleitet. Außerdem konnte es auf bereits durchgeführte Multi-Client-Projekte mit der Industrie aus der Vergangenheit zurückgreifen. Anhand dieser Veröffentlichung zeigt sich erneut die enge Verzahnung aus Wissenschaft und Praxis.
Die Life Cycle Working Environment-Methode (LCWE 1.0) wird innerhalb eines EU-Projektes entwickelt. Die LCWE-Methode ist ein Verfahren zur Quantifizierung und Bewertung sozialer Aspekte eines Produktes oder Produktsystems entlang der Wertschöpfungskette. Dabei wird anhand verschiedener Indikatoren ein Sozialprofil erstellt. Durch die LCA, die LCC und die LCWE können innerhalb der GaBi-Software die drei Säulen der Nachhaltigkeit abgebildet werden.
Die Abteilung GaBi veröffentlicht zunehmend Methoden, die die Prognose verschiedener Systeme innerhalb der Software ermöglichen. Dadurch wächst besonders die allgemeine Akzeptanz der Methode innerhalb des Marktes aber auch zunehmend der Einfluss auf politische Richtlinien. Darüber hinaus verbesserten die Prognosen die gesellschaftliche Relevanz sowie Akzeptanz von Umweltinformationen.
Neuauflage der Norm DIN EN ISO 14040 „Umweltmanagement - Ökobilanz - Grundsätze und Rahmenbedingungen" und erstmalige Einführung der DIN EN ISO 14044 „Umweltmanagement - Ökobilanz - Anforderungen und Anleitungen", die ein Zusammenschluss der bisherigen Normen DIN EN ISO 14041 bis 14043 darstellte. Die vereinfachten Normen bilden den heutigen Standard für eine normenkonforme Ökobilanzierung und finden weltweit in Industrie sowie Forschung Anwendung.
Die Abteilung GaBi wird an das Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) angegliedert. Dort wird die Abteilung in die bis heute bestehenden drei Gruppen „Nachhaltiges Bauen“, „Werkstoffe und Produktsysteme“ sowie „Energie und Mobilität“ unterteilt. Die Fraunhofer Gesellschaft finanziert ihre Forschung zu etwa 30 Prozent aus öffentlichen Mitteln und zu 70 Prozent durch Aufträge aus der Industrie. Durch die Verknüpfung mit dem Fraunhofer erhält die Abteilung GaBi einen noch direkteren Zugang in die Praxis, was dem interdisziplinären Stil zugutekommt. Gleichzeitig ist die Abteilung bis heute ebenfalls an das Institut für Akustik und Bauphysik (IABP) der Universität Stuttgart angegliedert.
Die erste Veröffentlichung von LANCA – “Landnutzung in der Ökobilanz”. LANCA analysiert die Effekte von landnutzenden Prozessen auf die Ökosystemleistungen im Kontext der Ökobilanz. Damit war die Abteilung GaBi Vorreiter bei der Integration von Landnutzungsaspekten in Ökobilanzen. Die Bewertungen können sowohl auf nationaler als auch weltweit auf lokaler Ebene durchgeführt werden. Die Daten sind ebenfalls in der GaBi-Datenbank hinterlegt. Die Charakterisierungsfaktoren von LANCA sind öffentlich zugänglich und werden von der Europäischen Union empfohlen. Die Methode ist zur Erstellung von Ökobilanzen im Rahmen des Product Environmental Footprint (PEF) der Europäischen Union ausgelegt.
Die Product-Environmental-Footprint-Initiative (PEF-Initiative) der EU wird ins Leben gerufen, um ein einheitliches Verfahren zur Bewertung der Umweltauswirkungen von Produkten über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg zu entwickeln. Das angestrebte Ziel ist, die Transparenz und Vergleichbarkeit von Umweltinformationen zu erhöhen und Unternehmen sowie Verbrauchern eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu bieten. Im Jahr 2013 werden die ersten Ergebnisse dieser Initiative veröffentlicht, darunter die PEF-Methode, die spezifische Anforderungen und Richtlinien für die Durchführung von Ökobilanzen festlegt.
Erstmalige Veröffentlichung der Normen DIN EN 15804 „Nachhaltigkeit von Bauwerken - Umweltproduktdeklarationen - Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte" und DIN EN 15978 „Nachhaltigkeit von Bauwerken - Bewertung der umweltbezogenen Qualität von Gebäuden - Berechnungsmethode". Diese beinhalten spezifische Grundregeln zur Erstellung von Ökobilanzen von Gebäuden und Bauprodukten. Beide Normen tragen dazu bei, einheitliche Standards für die ökologische Bewertung im Bauwesen zu schaffen und fördern somit Transparenz und Vergleichbarkeit in der Branche.
Veröffentlichung des EEBGUIDE (Operational guidance for life cycle assessment studies of the Energy Efficient Building Initiative) in Form des Guidance Document – Part A: Products und Guidance Document – Part B: Buildings durch das Fraunhofer IBP. Ziel des Projekts ist die Erstellung einheitlicher Rechenregeln und Leitlinien für Ökobilanzen in der europäischen Bauindustrie.
Veröffentlichung von LANCA Version 2.0 – Characterization Factors for Life Cycle Impact Assessment.
Veröffentlichung von GaBi 8.0 und der damit aktuellen Basisversion auf dem Markt.
Heute ist die ganzheitliche Bilanzierung ein etabliertes Konzept in zahlreichen Ländern. Sie wird nicht nur zur Optimierung von Produkten und Prozessen eingesetzt, sondern auch zur Kommunikation von Nachhaltigkeitsleistungen gegenüber Kunden und Stakeholdern. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der GaBi-Methode und Software spiegelt die Dynamik der Thematik und das Umfeld in dem Unternehmen agieren müssen wider.
Die Entstehung der ganzheitlichen Bilanzierung ist eine Erfolgsgeschichte, die durch Innovation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein wachsendes Bewusstsein für Nachhaltigkeit geprägt ist. Die Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass Unternehmen heute besser denn je gerüstet sind, verantwortungsbewusst mit ihren Ressourcen umzugehen und einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Zur Erreichung der EU-Klimaziele wurden europäische und deutsche Richtlinien zur Reduktion der Umweltbelastung durch Gebäude entwickelt. LCA-Datenbanken und Zertifizierungssysteme spielen dabei eine wichtige Rolle.
Zertifizierungssysteme stellen ein belastbares Werkzeug dar, um nachhaltige Bauprojekte durch quantifizierbare Kriterienkataloge zu bewerten, zu fördern und um unterschiedliche Vorhaben miteinander zu vergleichen.
Für die vollständige Abbildung der Umweltwirkungen sowie Treibhausgasemissionen im Lebenszyklus von Gebäuden ist neben der Energiebedarfsberechnung eine ökobilanzielle Bewertung der Konstruktionen und Baustoffe erforderlich.