Lebenszyklusbetrachtung für zukunftsfähige Quartiere
Stand: Januar 2023
Die Lebenszyklusbetrachtung bei Quartieren bezieht sich auf die ganzheitliche Analyse und Bewertung des gesamten Lebenszyklus eines Stadtviertels oder einer Siedlung. Dies umfasst alle Phasen von der Planung und Entwicklung über den Bau und die Nutzung bis hin zur Revitalisierung oder Rückbau.
Begriffsklärung
Lebenszyklusbetrachtungen folgen heutzutage im Regelfall standardisierten Vorgaben. Maßgeblich sind hier die internationalen Normen ISO 14040 und ISO 14044, die sich mit dem Life Cycle Assessment (LCA) befassen und ein standardisiertes Verfahren zur quantitativen Bewertung der Umweltauswirkungen eines Produkts über alle Phasen seines Lebenszyklus hinweg beschreiben: von der Rohstoffgewinnung über die Produktion, den Transport und die Nutzung bis hin zur Entsorgung oder dem Recycling. Ein LCA liefert dementsprechend detaillierte Daten zu den Umweltauswirkungen und ermöglicht Vergleiche zwischen verschiedenen Produkten oder Prozessen.
In der deutschen Ausgabe der initialen Norm wurde der Begriff des Life Cycle Assessments mit Ökobilanz übersetzt: DIN EN ISO 14040 „Umweltmanagement – Ökobilanz – Grundsätze und Rahmenbedingungen”. Das führte dazu, dass mittlerweile die Begriffe Ökobilanzierung, Life Cycle Assessment und Lebenszyklusanalyse häufig synonym für das Normverfahren verwendet werden, obwohl beispielsweise Ökobilanzierungen ursprünglich weiter definiert waren, als in der Norm beschrieben.
Um diesbezüglich Missverständnissen in der Auslegung der Begriffe vorzubeugen, wird der Normbezug häufig durch die Angabe der Abkürzung (LCA) hergestellt.
Relevante Indikatoren der Lebenszyklusanalyse (LCA) auf der Quartiersebene
Bei der Lebenszyklusanalyse (LCA) auf der Quartiersebene werden verschiedene Indikatoren betrachtet, um die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines Quartiers über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg zu bewerten. Dies sind einige der wichtigsten Indikatoren:
Treibhausgasemissionen (THG): Gesamtmenge an CO2-Äquivalenten, die während des Lebenszyklus des Quartiers emittiert werden
Energieverbrauch: Gesamtenergieverbrauch in verschiedenen Phasen (Bau, Betrieb, Rückbau) und die Anteile erneuerbarer Energien
Wasserverbrauch: Gesamtwasserverbrauch und -qualität, einschließlich Regenwassernutzung und Abwasserbehandlung
Ressourcennutzung: Verbrauch von natürlichen Ressourcen wie Rohstoffen, Baumaterialien und Flächenverbrauch
Biodiversität: Auswirkungen auf lokale Ökosysteme und Artenvielfalt durch Flächenversiegelung oder Habitatverlust
Lebensqualität: Zugang zu Grünflächen, Freizeitmöglichkeiten, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdiensten
Soziale Integration: Vielfalt der Wohnformen und soziale Durchmischung im Quartier
Sicherheit: Kriminalitätsraten und subjektives Sicherheitsgefühl der Bewohnerinnen und Bewohner
Partizipation: Möglichkeiten für Bürgerbeteiligung bei Planungsprozessen
Baukosten: Gesamtkosten für den Bau des Quartiers sowie laufende Instandhaltungs- und Betriebskosten
Wertschöpfung: Wirtschaftliche Aktivitäten im Quartier, z.B. Anzahl der Arbeitsplätze oder der lokalen Unternehmen
Immobilienwerte: Entwicklung der Immobilienpreise im Quartier über die Zeit
Infrastrukturqualität: Zustand und Effizienz von Verkehrsinfrastrukturen (z.B. Straßen, Radwege, öffentliche Verkehrsmittel)
Energieeffizienz von Gebäuden: Bewertung der energetischen Qualität von Wohn- und Gewerbegebäuden
Erhalt kultureller Werte: Berücksichtigung historischer Gebäude oder kultureller Stätten im Quartier
Identität und Gemeinschaftsgefühl: Wahrnehmung des Quartiers durch die Bewohnerinnen und Bewohner sowie deren Bindung an den Ort
Resilienz gegenüber dem Klimawandel: Fähigkeit des Quartiers, sich an klimatische Veränderungen anzupassen (z.B. Hochwasserschutz)
Zukunftsfähigkeit der Infrastruktur: Planung für zukünftige Bedürfnisse hinsichtlich des Bevölkerungswachstums oder technologischer Entwicklungen
Diese Indikatoren helfen dabei, ein umfassendes Bild von den Auswirkungen eines Quartiers auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft zu erhalten. Die Auswahl spezifischer Indikatoren kann je nach Zielsetzung der Analyse variieren, sollte jedoch immer die relevanten Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigen.
Anwendung der Lebenszyklusanalyse (LCA) auf Quartiere
Die Lebenszyklusanalyse (LCA) für Quartiere oder städtische Gebiete ist ein komplexer Prozess, der darauf abzielt, die Umweltauswirkungen eines gesamten Stadtteils über dessen Lebenszyklus hinweg zu bewerten. Dies sind die grundlegenden Schritte und Aspekte, die bei der Durchführung einer LCA für Quartiere berücksichtigt werden:
Zielsetzung: Klärung, warum die LCA durchgeführt wird (z.B. zur Identifizierung von Verbesserungspotenzialen, zur Unterstützung von Planungsentscheidungen)
Systemgrenzen: Festlegung, welche Elemente des Quartiers in die Analyse einbezogen werden (z.B. Gebäude, Infrastruktur, Verkehrssysteme)
Systemgrenzen bei einer LCA auf der Quartiersebene sind zum Beispiel nach DGNB: Gebäude, Freiflächen, Verkehrsflächen und Infrastruktur
Daten sammeln: Erfassung von Daten zu Materialien, Energieverbrauch, Wasserverbrauch und Abfallproduktion im Quartier
Lebenszyklusphasen: Berücksichtigung aller Phasen des Lebenszyklus
Planung und Bau: Materialeinsatz, Bauprozesse
Betrieb: Energie- und Wasserverbrauch, Emissionen während der Nutzung
Rückbau/Entsorgung: Abfallmanagement und Recycling
Anwendung von Bewertungsmethoden zur Quantifizierung der Umweltauswirkungen basierend auf den gesammelten Daten
Dies kann Folgendes umfassen:
Treibhausgasemissionen
Ressourcenverbrauch
Luft- und Wasserverschmutzung
Ökologische Auswirkungen wie Versauerung oder Eutrophierung
Analyse der Ergebnisse zur Identifizierung von Hotspots (Bereiche mit hohen Umweltauswirkungen)
Bewertung von Alternativen oder Verbesserungsmaßnahmen (z.B. energieeffiziente Gebäude, nachhaltige Verkehrskonzepte)
Dokumentation der Methodik, Ergebnisse und Empfehlungen
Kommunikation der Ergebnisse an Stakeholder aus den Bereichen Planung, Investment oder der Öffentlichkeit
Nutzung der Ergebnisse zur Unterstützung nachhaltiger Planungsentscheidungen
Entwicklung von Strategien zur Reduzierung der Umweltauswirkungen im Quartier
Die Komplexität urbaner Systeme erfordert oft interdisziplinäre Ansätze
Datenverfügbarkeit kann eine Herausforderung darstellen; oft sind umfassende Datensätze erforderlich
Berücksichtigung sozialer Aspekte und Lebensqualität ist ebenfalls wichtig
Zusammenhänge bei einer Lebenszyklusanalyse (LCA) auf der Quartiersebene
Innerhalb einer Lebenszyklusanalyse (LCA) gibt es mehrere wichtige Zusammenhänge, die berücksichtigt werden müssen, um ein umfassendes Verständnis der Umweltauswirkungen eines Produkts oder Systems zu erhalten. Diese sind zentral:
Der Verbrauch von natürlichen Ressourcen (z.B. Rohstoffe, Wasser, Energie) steht in direktem Zusammenhang mit den Umweltauswirkungen. Höherer Ressourcenverbrauch kann zu höheren Emissionen und Abfallmengen führen.
Die verschiedenen Phasen des Lebenszyklus (Rohstoffgewinnung, Produktion, Nutzung, Entsorgung) sind miteinander verknüpft. Veränderungen in einer Phase können Auswirkungen auf andere Phasen haben. Zum Beispiel kann eine Verbesserung der Energieeffizienz während der Nutzung die Gesamtumweltauswirkungen verringern, auch wenn die Herstellungskosten steigen.
Emissionen in Luft, Wasser und Boden aus verschiedenen Lebenszyklusphasen beeinflussen die Umweltqualität und können zu Problemen wie Klimawandel, Versauerung oder Eutrophierung führen. Die Art der Emissionen hat unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Umweltaspekte.
Der Übergang von einer linearen zu einer zirkulären Wirtschaft hat direkte Auswirkungen auf die LCA-Ergebnisse. Recycling und Wiederverwendung von Materialien können den Ressourcenverbrauch und die Abfallproduktion erheblich reduzieren.
Technologische Innovationen können sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die LCA haben. Neue Technologien können beispielsweise den Energieverbrauch senken oder die Effizienz steigern. Aber sie können auch neue Materialien oder Prozesse einführen, die zusätzliche Umweltauswirkungen verursachen.
Soziale Faktoren wie Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit sind ebenfalls relevant für eine umfassende Bewertung der Nachhaltigkeit eines Produkts oder Systems. Diese Aspekte sollten in erweiterten Analysen berücksichtigt werden.
Kosten-Nutzen-Analysen sind wichtig für Entscheidungen über Investitionen in nachhaltige Praktiken oder Technologien. Ökonomische Anreize können das Verhalten von Unternehmen sowie Verbrauchenden und somit auch die Umweltauswirkungen beeinflussen.
Die Interessen verschiedener Stakeholder (z.B. Verbrauchende, Unternehmen, Regierungen) können die Entscheidungen beeinflussen, die im Rahmen einer LCA getroffen werden. Diese Interessen sollten bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass eine LCA nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie erfordert ein systemisches Denken und ein Verständnis dafür, wie verschiedene Faktoren miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen können.
Relevante Normen und Standards
Es gibt Normen und andere Standards, die sich mit Lebenszyklusanalysen (LCA) befassen, auch wenn sie nicht spezifisch auf die Quartiersebene ausgerichtet sind. Diese Normen bieten jedoch einen Rahmen und Leitlinien, die auf Quartiere angewendet werden können. Folgende sind einige relevante Normen und Standards:
Diese beiden Normen bilden den internationalen Standard für Lebenszyklusanalysen. ISO 14040 legt die Grundsätze und den Rahmen für LCA fest, während ISO 14044 spezifische Anforderungen und Leitlinien für die Durchführung einer LCA beschreibt. Diese Normen sind allgemein gehalten und können auf verschiedene Anwendungsbereiche, einschließlich auf Quartiere, angewendet werden.
Diese europäische Norm befasst sich speziell mit der Bewertung der Nachhaltigkeit von Gebäuden und deren Lebenszyklus. Sie bietet einen Rahmen zur Bewertung der ökologischen Auswirkungen von Gebäuden über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg, was auch auf Quartiere anwendbar ist.
Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) hat Kriterien entwickelt, die auch Aspekte der Lebenszyklusanalyse umfassen. Diese Kriterien berücksichtigen ökologische, ökonomische und soziale Faktoren und können bei der Planung und Bewertung von Quartieren verwendet werden.
Das Building Research Establishment Environmental Assessment Method (BREEAM) ist ein weiteres Zertifizierungssystem, das Umweltaspekte in der Bau- und Planungsphase berücksichtigt. Es enthält Kriterien zur Bewertung der Umweltauswirkungen von Gebäuden und kann auch auf Quartiere angewendet werden.
Leadership in Energy and Environmental Design (LEED) ist ein weiteres bekanntes Zertifizierungssystem, das nachhaltige Baupraktiken fördert. LEED-Kriterien beinhalten ebenfalls Aspekte der Lebenszyklusanalyse und können auf städtische Entwicklungen angewendet werden.
In Deutschland gibt es spezifische Leitfäden zur Ökobilanzierung im Städtebau, die sich mit den Besonderheiten urbaner Strukturen befassen.
Die genannten Normen bieten einen strukturierten Ansatz zur Durchführung von LCA in Quartieren. Sie helfen dabei, konsistente Methoden zu verwenden, um die Umweltauswirkungen zu bewerten und zu vergleichen. Bei der Anwendung dieser Normen ist es wichtig, die spezifischen Gegebenheiten des jeweiligen Quartiers sowie lokale Vorschriften und Anforderungen zu berücksichtigen.
Nachhaltigkeit in Quartieren: Zertifizierungen
Nachhaltigkeitszertifizierungen und damit verbundene Maßnahmen und Konzepte im Quartier helfen dabei – unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen und Abhängigkeiten – Nachhaltigkeitsqualitäten zielgerichtet, systematisch und wirtschaftlich umzusetzen.
Ein klimaneutrales Stadtquartier in Berlin, das Wohnen, Arbeiten und Forschen vereint. Nachhaltig, ressourcenschonend und mit digitaler Präzision geplant.
Um den heutigen Anforderungen an Gebäude wie Wohnqualität, Wirtschaftlichkeit, Dauerhaftigkeit, Umnutzbarkeit und Rückbaubarkeit gerecht zu werden, ist eine vorausschauende und ganzheitliche Planung erforderlich.
Um Verknappung und Übernutzung von Ressourcen etwas entgegen zu setzen und die Treibhausgas-Emissionen durch den Bausektor zu verringern, müssen zirkulär geplant und gebaut sowie Gebäude als Rohstofflager genutzt werden.
Erneuerbare Wärme im Quartier – Netzgebundene Versorgung
Gemäß GEG 2024 muss die Wärmeversorgung von Gebäuden schrittweise auf mindestens 65 Prozent erneuerbare Energien umgestellt werden. Neben Erfüllungsoptionen im Einzelgebäude existieren verschiedene Möglichkeiten dies über den Quartiersansatz herzustellen.